Pictet Group
Edouard Pictet (1813-1878)
Die Pictets: Bank- und Finanztätigkeit einer Genfer Patrizierfamilie (1707–1926)
Genfer Bourgeoisie und Private Banking
Als Edouard Pictet-Prevost1 im Jahr 1841 Teilhaber der 18052 gegründeten Bank De Candolle, Turrettini & Cie wurde, wurde der Name Pictet zum Firmennamen hinzugefügt und ist bis zum heutigen Tag dessen fester Bestandteil. Die Bank wurde errichtet, als Genf von Frankreich annektiert war. Die Gründung erfolgte mitten im Umbau des Genfer Finanzsektors nach grossen Insolvenzen gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die auf die wirtschaftlichen Folgen der französischen Revolution zurückzuführen waren.
Im (ganzen) 19. Jahrhundert folgte oft der Sohn auf den Vater als Pictet-Teilhaber im Kollegium der Teilhaber, die das Bankhaus prägten: mit einer gewissen Disziplin, die als Vermächtnis des Calvinismus gilt3, zusammen mit einer umsichtigen und diskreten Führung ihrer Geschäfte, und einer resoluten Weltoffenheit, was Finanzanlagen angeht.
Diese Art der Geschäftsführung findet sich jedoch nicht nur bei Pictet: Sie ist Teil einer den Genfer Privatbankiers gemeinsamen Tradition. Obwohl Letztere heute eine Zeit tiefgreifender Veränderung durchleben, waren die letzten Jahrhunderte von erstaunlicher ontinuität in Bezug auf Rechtsformen, Art der Geschäftstätigkeit und Verhaltensregeln geprägt.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen die Genfer Geschäftsleute Geld mit Handel, Devisen und raffinierten Investitionen zu verdienen: Es war die Zeit der „Händler-Bankiers“. Dieser Trend beschleunigte sich im 18. Jahrhundert, als Genf zu einem wichtigen Zentrum für den Devisenhandel wurde; mit der Zeit bildete sich das so genannte „hohe Bankwesen“ heraus, eine exklusive Gruppe familiengeführter Privatbanken. Von da an nannte man diese Bankiers „privat“, denn sie handelten auf eigene Rechnung, allein oder mit Teilhabern, die fast immer nahe Verwandte waren, über eine Kommanditgesellschaft4. Im Grunde waren es Händler, die sich immer mehr auf Kapitalanlagegeschäfte spezialisierten: Sie kauften, verkauften und verwahrten Wertschriften ihrer Kunden und berieten alle, die ihr Vermögen arbeiten lassen wollten5. Von Anfang an stellten sie sich in den Dienst eines kleinen, vertrauenswürdigen Kundenstamms. Ihre Geschäftsbeziehungen bildeten ein breites, komplexes Netzwerk und beruhten weitgehend auf der internationalen Gemeinschaft der Hugenotten, die von den französischen Hugenotten geschaffen und ausgebaut wurde, welche auf der Flucht in andere Länder ihr „Refuge“ fanden. Der Geschichtswissenschaftler Herbert Lüthy beschrieb das Genfer Bankensystem des 18. Jahrhunderts als „hugenottisches Bankwesen par excellence“6
Die Pictets gehören einer kleinen Zahl von Genfer Familien an, die als „primordial“ bezeichnet werden, d. h., sie haben das Bürgerrecht [offizieller Status als Mitglieder der Bourgeoisie] vor der Reformation erworben7; zusammen mit aus Frankreich und Italien geflohenen protestantischen Familien bilden sie das Genfer Patriziat8. Bis zur Revolution der Radikalen von 1846 [SJ1] stellte diese bürgerliche Elite eine echte republikanische Aristokratie dar, die anfangs eher politische denn wirtschaftliche Macht ausübte, und die nach der Reformation als moralische Instanz der Stadt neben einer Reihe rechtlicher Ämter auch akademische und pastorale Aufgaben übernahm. Im Genf des 16. und 17. Jahrhunderts, das noch von calvinistischen Idealen geprägt war und nur über bescheidene Vermögen verfügte, galt „Reichtum wesentlich weniger als der gute Ruf“9. Für neue Familien wurde es immer schwieriger, sich im Patriziat zu etablieren, das wie eine Oligarchie agierte und die politischen Spannungen in der kleinen Republik schürte. Ab dem 18. Jahrhundert gründete diese bürgerliche Elite Bank- und Finanzunternehmen, die ihnen grossen wirtschaftlichen Wohlstand und auch einige Rückschläge bescheren sollten. Obwohl die Patriziergeschlechter ihre politische Macht infolge der von James Fazy angeführten Revolution von 1846 zum Teil einbüssten (was auf die Pictets nicht zutraf), blieb ihre finanzielle Macht mehr oder weniger unangetastet10.
Jede Einzelperson und jede Familie hatten natürlich ihr eigenes Schicksal, weshalb sich daraus keine systematischen Verallgemeinerungen herleiten lassen. Unter vielen historischen, soziologischen und religiösen Gesichtspunkten können die Pictets indes als repräsentativ für das Patriziat gelten, das einen so ausgeprägten Einfluss auf die Genfer Politik- und Wirtschaftsgeschichte hatte. In dieser Hinsicht ist es von Interesse, die wirtschaftlichen Talente der Familienmitglieder zu betrachten. In diesem Beitrag untersuchen wir daher die Beteiligungen der Familie Pictet an bestimmten gewerblichen und Bankunternehmungen und später an der Entwicklung der Bank Pictet im 19. Jahrhundert11. Um die Familie etwas detaillierter vorzustellen, wollen wir zuerst kurz auf ihre Geschichte, Geschichtsschreibung und Abstammung eingehen. Danach befassen wir uns mit ihren Händlern und Bankiers des 18. Jahrhunderts und versuchen, sie in ihrem historischen Kontext zu situieren. Dieser Abschnitt stützt sich im Wesentlichen auf Lüthys Arbeit über das protestantische Bankwesen12. In einem dritten Teil wenden wir uns dem Zeitraum 1841 bis 1926 zu, in dem die Bank praktisch ausschliesslich von Mitgliedern der Familie geführt wurde. Nach den Krisen- und Kriegsjahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts erforderte die wachsende Grösse der Bank einen vermehrt kollegialen Ansatz, der den familiengeführten und individuellen Aspekt der Geschäftsführung auf ein Minimum begrenzte.13 Für diese Abschnitte verwendeten wir das Archiv der Pictet-Gruppe für das 19. Jahrhundert und rundeten unsere Nachforschungen durch Recherchen im Familienarchiv ab, wo dies relevant erschien.
Eine Familie im Dienste der Stadt
Jean-Daniel Candaux beginnt seine 1974 veröffentlichte Geschichte der Familie Pictet [History of the Pictet Family] mit folgendem Satz:
„Die Geschichte der Familie Pictet verdiente es, niedergeschrieben zu werden, denn sie ist fester Bestandteil der Geschichte von Genf, ja bisweilen verschmilzt sie mit ihr.“14
Während der Name Pictet sich heute vor allem auf Mitglieder der gleichnamigen Bankgruppe zu beziehen scheint, war die Verbindung zwischen Genf und den Pictets ursprünglich politischer Natur. Angefangen bei der Wahl von Ami Pictet im Jahr 1575 bis hin zur Genfer Revolution von 1792 war abgesehen von zwei kurzen Unterbrechungen (1607–1616 und 1768–1775) im Kleinen Rat der früheren Republik15 stets mindestens ein Familienmitglied16 vertreten.
Die Revolutionen hielten die Pictets nicht davon ab, dieses Amt zu übernehmen. Im gesamten 19. und 20. Jahrhundert sollten sie sich auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene zu Wahlen stellen.
Paradebeispiel für dieses Engagement für öffentliche Aufgaben im Dienst der Stadt war Charles Pictet de Rochemont (1755–1824), der die Ausweitung des Genfer Territoriums auf dem Wiener, dem Pariser und dem Turiner Kongress verhandelte, damit Genf der Schweizerischen Eidgenossenschaft beitreten konnte. Er verfasste auch die Erklärung, in der die zur Unterzeichnung des zweiten Pariser Friedens (1815) versammelten Mächte die immerwährende Neutralität der Schweiz anerkennen17. Diese politische Ader, die seit dem 16. Jahrhundert stark ausgeprägt war, scheint heute versiegt.
Fussnoten
1 Wie in Genf üblich wurde der Familienname der Ehegattin an den eigenen angehängt.
2 Die Bank wurde 1805 unter dem Namen De Candolle, Mallet & Cie. gegründet. https://www.group.pictet/de
3 Der Historiker André-Emile Sayous schreibt von einer „ursprünglich für das allgemeine Interesse auferlegten Disziplin, die dann hauptsächlich unter dem Einfluss persönlicher Interessen in eine Vorliebe für Wirtschaft überging. Diese disziplinierte Haltung ermöglichte die Bildung von Ersparnissen, die in der Genfer Geschichte eine so wichtige Rolle gespielt haben.“ SAYOUS, André-Emile, „Calvinisme et capitalisme: L’expérience genevoise“, Annales d’histoire sociale, Nr. 33, 1935, S. 243.
4 Die Rechtsform der Kommanditgesellschaft (Limited Partnership) eignet sich besonders gut für kleine Unternehmen im Besitz von Privatpersonen. Verschiedene Arten der Haftung (General Partners haften gemeinsam und unbeschränkt und Limited Partners beschränkt) bedeuten, dass auch externe Geldgeber einbezogen werden können. Diese Tradition endete für die Pictet-Gruppe jedoch 2014, als ihre schweizerische Bank Pictet & Cie unter dem Namen Banque Pictet & Cie SA zu einer Aktiengesellschaft wurde, allerdings ist sie nicht kotiert und weiterhin im Besitz der Teilhaber. Die Teilhaber führen heute die Geschäfte einer Kommanditaktiengesellschaft: Pictet & Cie Group SCA.
5 SAYOUS, André-Emile, „Les principales phases de l’histoire de la banque à Genève pendant le XVIIIe siècle“, Annales d’histoire sociale (1939–1941), 1939, S. 137.
6 Herbert Lüthy verwendet den Begriff „Spinnennetz“, um die engen Verknüpfungen des protestantischen Finanznetzwerks im 18. Jahrhundert zu beschreiben. LÜTHY, Herbert, La banque protestante en France: de la Révocation de l’Edit de Nantes à la Révolution, Paris: Editions de l’EHESS, 1988, (3rd ed.), Vol. 1, S. 33.
7 CHOISY, Albert, Généalogies genevoise : Familles admises à la Bourgeoisie avant la réformation, Genf: Imprimerie Albert Kundig, 1947. Nur sechs dieser Familien haben überlebt: Gallatin, Gautier, Lullin, Naville, Pictet und Rilliet.
8 Im Unterschied zum Konzept der Bourgeoisie hatte dieser Begriff im Genf des Ancien Régime keine rechtliche Bedeutung.
9 SAYOUS, André-Emile, „La haute bourgeoisie de Genève entre le début du XVIIe et le milieu du XIXe siècle“, Revue Historique, Nr. 1, Januar 1937, S. 35. (Der Geschichtswisssenschaftler zitiert die Ausgabe von 1829 von GALIFFE, J.-A., Notices généalogiques sur les familles genevoises, depuis les premiers temps jusqu’à nos jours, pt.[SJ1] I, S. XXVI.)
10 PERROUX, Olivier, Tradition, vocation et progrès : les élites bourgeoises de Genève (1814-1914), Doktorarbeit: Universität Genf, 2003, S. 430.
11 Wenn wir heute von der Pictet-Gruppe sprechen, beziehen wir uns auf ihre internationale Dimension und die rechtliche und organisatorische Unterteilung in mehrere verschiedene Unternehmen.
12 LÜTHY, Herbert, op. cit., 3 Vols.[SJ2]
13 1926 änderte die Bank ihren Namen in Pictet & Cie, den sie bis 2014 führte. In diesem Zeitraum machte es die Rechtsform der Personengesellschaft erforderlich, dass stets mindestens ein Teilhaber Pictet hiess, um den Namen des Unternehmens beibehalten zu können.
14 CANDAUX, Jean-Daniel, Histoire de la famille Pictet 1474-1974, Genf: Braillard, 1974, Vol. 1, S. IX.
15 Pendant des heutigen Staatsrats, der Exekutive, in den Genfer Institutionen des Ancien Régime. Er bestand aus fünfundzwanzig Mitgliedern und zwei Staatssekretären. Er umfasste gewöhnlich vier Syndics.
16 Zwölf Syndics, vier Leutnants, fünf Schatzmeister unter der Republik.
17 PICTET, François Charles, 1815-2015: Notice sur Charles Pictet de Rochemont (1755-1824), négociateur des frontières du canton de Genève, artisan de la reconnaissance par l'Europe de la neutralité permanente de la Suisse, Genf: Pictet Family Archives Foundation, 2015. http://archivesfamillepictet.ch/bibliographie/documents/PictetdeRochemont_06_2016.pdf