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Ryuichiro Masuda ― Immer weiter, immer besser
Beim Thema Handwerk neigen wir zu der romantischen Vorstellung, dass der Handwerker Techniken verwendet, die seit Jahrhunderten bestehen. Gerade in unserer technikdominierten und schnelllebigen Welt gibt uns dieses Festhalten an Traditionen offenbar ein Gefühl der Beständigkeit. Handwerk spielt für Ryuichiro Masuda eine enorm wichtige Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht gleichzeitig auch offen für Neues und bereit sein kann, zu lernen, Dinge zu verbessern und sich anzupassen.
„Ich denke oft darüber nach, was gemeint ist, wenn wir von Tradition sprechen“, so Masuda, der die 1893 gegründete Masuda Sake Brewery bereits in fünfter Generation führt. Bekannt ist die Sake-Brauerei vor allem für ihren Premium-Sake Masuizumi. „Auch wenn wir behaupten, traditionelle Brauverfahren zu verwenden, wurde die Basis für unsere heutige Arbeit vor drei Jahrzehnten mit unserem Ginjō-shu gelegt“, erklärt Ryuichiro Masuda und bezieht sich dabei auf einen ganz speziellen Sake, bei dem der Reis intensiver gemahlen wird. „Dieses Verfahren unterscheidet sich deutlich von den Techniken, die meine Vorfahren vor 100 oder 200 Jahren angewandt haben. Kann man das wirklich als traditionell bezeichnen? Wir sind immer noch auf der Suche.“ Wenn er sagt, dass seine Familie sogar nach über 130 Jahren im Sake-Geschäft immer noch auf der Suche sei, zeugt dies von seinem anhaltenden Wissensdurst – einer seiner typischen Charakterzüge.
Masuda wurde das Unternehmen 2004 im Alter von 37 Jahren von seinem Vater übergeben. „Von frühester Kindheit an wurde mir vermittelt, dass ich die Firma erben würde“, erzählt er. „Eigentlich gab es für mich keine andere Wahl.“ Seit er die Leitung übernommen hat, treibt er das Unternehmen nach seinen eigenen Vorstellungen voran. Ganz ohne schlechtes Gewissen entwickelt er das Unternehmen weiter und fühlt sich nicht verpflichtet, unbedingt an Altem festzuhalten. „Japan hat sich in den letzten 30 Jahren von Grund auf verändert. Mein Vater hat in einer Zeit gelebt, die von Modernisierung geprägt war. Ich dagegen lebe in einer Zeit der kulturellen Rückbesinnung“, so Masuda. „Jede Generation hat eine andere Vorstellung davon, was richtig ist und wie die Dinge zu laufen haben. Selbst wenn ich alles rückgängig machen würde, was mein Vater getan hat, als er das Unternehmen leitete, wäre das in Ordnung, schliesslich leben wir heute in einer völlig anderen Zeit.“
Oft wird behauptet, dass Familienunternehmen ihre Stärke aus der mehrere Jahrzehnte und Generationen überdauernden Kontinuität und Konsistenz ziehen, und zu weiten Teilen stimmt das sicher auch. Familienunternehmen können sich aber auch – anders als andere Firmen – immer wieder neu erfinden, ist Masuda überzeugt. „Alle 30 Jahre durchläuft unser Familienunternehmen einen Wandel. Im Moment führe ich die Firma, aber nach 30 Jahren an der Spitze übergebe ich an die nächste Generation“, erklärt er. „In Unternehmen, deren Führung alle fünf oder sechs Jahre ausgetauscht wird, sind radikale und tiefgreifende Veränderungen unmöglich. In einem Familienunternehmen jedoch ist radikaler Wandel möglich.“
Und genau dies ist ihm mit der Masuda Brewery gelungen: ein radikaler Wandel. Auf seinen vielen Reisen nach Europa und Nordamerika hat sich Ryuichiro Masuda ein modernes Luxusverständnis und breites Wissen über die globalen Märkte angeeignet, das er nun in das Sake-Brauereigeschäft einbringt. „Während meiner Reisen in die USA und Europa habe ich viel erlebt, ich habe die Traditionen anderer Länder kennengelernt und meine eigene Kultur neu entdeckt, und ich habe Stolz auf das empfunden, was meine Heimatregion zu bieten hat“, so Masuda.
Rund 95 Prozent des weltweiten Sake-Konsums entfällt derzeit auf Japan. Daher besteht für Ryuichiro Masuda eine der grössten Herausforderungen darin, das Ausland für Sake zu begeistern – die „Globalisierung der Liebe zum Sake“, wie er es nennt. 2019 kam er diesem Ziel ein grosses Stück näher, als er sich mit Richard Geoffroy, der 28 Jahre Kellermeister bei Dom Pérignon war, zusammentat, um einen neuen Premium-Sake für den internationalen Markt zu kreieren: IWA Sake. Alles bei IWA ist darauf ausgerichtet, Kunden ausserhalb Japans anzusprechen: von der von Marc Newson designten Flasche bis hin zum Gebäude der Brauerei, das vom japanischen Architekt Kengo Kuma entworfen wurde.
Doch das eigentlich Revolutionäre ist die von IWA verwendete Braumethode. Geoffrey hat das in der Champagnerproduktion verwendete Prinzip der Assemblage auf die Sake-Herstellung übertragen und kombiniert verschiedene Reissorten, Gärstoffe und Brauvorgänge, um konstant erstklassige Ergebnisse zu erzielen. Masuda zeigt keinerlei protektionistischen Reflex gegenüber traditionelleren Brauverfahren. „Geoffroy hat uns die Augen geöffnet, wir haben viel von ihm gelernt“, sagt Ryuichiro Masuda. „Meiner Meinung nach muss die japanische Sake-Industrie gegenüber neuen Brauverfahren aufgeschlossen sein und mit diesen experimentieren. Nicht alle Schritte der traditionellen japanischen Sake-Herstellung sind zwangsläufig die einzig richtigen. Ein objektiver Blick von Aussenstehenden kann dabei helfen, grosse Veränderungen in Japans Sake-Industrie anzustossen.“
Masudas Einfluss beschränkt sich jedoch nicht auf die Welt des Sake. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet er ausserdem an seinem Ziel, Iwase, den Vorort von Toyama City, wo sich der Firmensitz seiner Brauerei befindet, in eine Hochburg des Kunsthandwerks und der Spitzengastronomie zu verwandeln. Nach einer weiteren inspirierenden Reise nach Europa fasst er den Entschluss, das etwas heruntergekommene Iwase neu zu beleben. Er kauft all die verlassenen Läden und Lagerräume in dem Ort, renoviert sie und überzeugt Chefköche und Handwerksbetriebe, ihr Glück in Iwase zu versuchen. Heute präsentiert sich der Ort in einem ganz neuen Licht. „Auf den 400 Metern von meinem Haus bis zur Brauerei kommt man an sechs Restaurants vorbei, die im Guide Michelin gelistet sind“, erzählt Masuda stolz. „Es gibt Glasbläser und Keramikkünstler, Bildhauer und Schmiedemeister, Bierbrauer und Sake-Verkostungsräume. Nach und nach haben immer mehr Künstler und Handwerker von Weltrang ihren Weg hierher gefunden.“
Iwase aus dem Dornröschenschlaf zu wecken war zwar seine eigene Entscheidung, doch manchmal wird einem diese Art von Entscheidung auch aufgezwungen. Im Januar 2024 wurde die nördlich von Toyama gelegene Halbinsel Noto von einem Erdbeben der Stärke 7,6 heimgesucht – dem stärksten in der Präfektur Ishikawa seit 1885. Das Erdbeben forderte 230 Todesopfer und beschädigte oder zerstörte fast 50 000 Häuser. „Meine Kinder und ich bemühen uns jeden Tag, die Führungspersönlichkeiten zu sein, welche die Region braucht“, so Masuda. Er führt Gespräche mit dem Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie und Vertretern der Präfektur, um ein Konzept für den Wiederaufbau in der Region nach der Katastrophe zu erstellen: „ein Konzept, das Brauereien Hoffnung gibt, und zeigt, dass aus dem Zerstörten etwas entstehen kann, das noch besser ist als zuvor“, erklärt Ryuichiro Masuda. „Wir können ein Unternehmen, das über 100 oder 150 Jahre aufgebaut wurde, nicht einfach aufgeben. Doch eine Katastrophe wie das Erdbeben auf der Noto-Halbinsel ist auch eine Chance für einen Neustart und eine Gelegenheit, Dinge zu verändern und Neues zu schaffen.“
Wie immer richtet Masuda seinen Blick in die Zukunft, auf Neues. Welche Pläne hat er noch für die Brauerei und die Region? „Ein Hotel wäre schön“, sagt er. „Gemeinsam mit Partnern aus Europa und den USA planen wir derzeit eine neue Brauerei und stellen uns weiter der Herausforderung, Sake auch im Ausland zu etablieren.“ Allerdings spricht er dabei nicht gerne von Herausforderungen. „Wir sprechen eher von Projekten, die wir vorantreiben möchten und denen wir uns verpflichtet fühlen.“
Macht er sich Gedanken über die nächste Generation und die Veränderungen, die der Masuda Brewery bevorstehen, wenn seine Kinder vielleicht einmal seine Nachfolge antreten? „Im Moment sind sie nicht in der Sake-Industrie tätig, doch ich hoffe, dass sich dies irgendwann ändert“, meint der Vater von zwei Söhnen und einer Tochter, alle in ihren Zwanzigern. „Wenn sie eines Tages zurückkehren möchten, empfange ich sie natürlich mit offenen Armen und arbeite mit ihnen zusammen. Aber es steht mir nicht zu, sie dazu zu drängen.“ Traditionell wird das Unternehmen an den ältesten Sohn weitergegeben, doch auch in diesem Punkt denkt Masuda eher unkonventionell. „Wenn meine Tochter statt meiner Söhne das Unternehmen führen möchte und ihre Brüder damit einverstanden sind, dann ist das für mich völlig in Ordnung.“ Ob es um das Führen eines Unternehmens oder die Herstellung von Sake geht – es gibt immer Raum für Innovation.