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Virgilio Martínez und Pía León ― „Haute Cuisine“
Als junger Mann wollte Virgilio Martínez vor allem deshalb Koch werden, weil er Neues erleben wollte. „Ich wollte die Welt sehen, andere Menschen und Kulturen kennenlernen“, erinnert er sich. „Und eine der einfachsten Möglichkeiten, um etwas zu verdienen, war nun mal das Kochen.“ In den 1990er Jahren mussten angehende Köche tatsächlich Peru verlassen, um den Beruf zu erlernen. „In gastronomischer Hinsicht war Peru damals ein nahezu unbeschriebenes Blatt, und daher konnte man hier auch keine fundierte Ausbildung machen“, meint er. „Dafür musste ich ins Ausland gehen.“
Nach seiner Ausbildung im „Le Cordon Bleu“ in Ottawa und London, die er 1998 abschloss, setzte Virgilio seine Karriere in den folgenden zehn Jahren in Spitzenrestaurants in aller Welt fort, vom Lutèce in New York bis zum Can Fabes in Katalonien. Im Jahr 2009 kehrte er mit (zumindest vorläufig) gestilltem Fernweh nach Lima zurück. Was er dort vorfand, war eine Stadt und ein ganzes Land im kulinarischen Aufbruch. Vor seinem Weggang hatte es keine nennenswerte Spitzengastronomie gegeben; bei seiner Rückkehr hingegen erlebte Peru gerade einen, wie er es nennt, „gastronomischen Boom“.
Doch in der kulinarischen Landschaft Limas fehlte in seinen Augen noch etwas. „Bei den Restaurants wurden anthropologische, historische und handwerkliche Aspekte ebenso wenig berücksichtigt wie die enorme Grösse und Biodiversität des Landes“, erklärt er. „Niemand dachte an saisonale Zutaten und an das Ökosystem, aus dem sie stammen. Und niemand arbeitete in den Anden.“ Daher beschloss Virgilio im Jahr 2009, im Barranco-Viertel von Lima das „Central“ zu eröffnen: sein eigenes Restaurant, inspiriert von den peruanischen Anden, dem Amazonas und der Pazifikküste des Landes. „Es war ein gastronomisches Erlebnis der besonderen Art, das ich bieten wollte“, meint er, „und das nicht nur in Peru, sondern weltweit“. Sein Plan ist offenbar aufgegangen, wie die Auszeichnungen für das „Central“ belegen – 2023 wurde es bei den World’s 50 Best Restaurants Awards zum besten Restaurant der Welt gekürt.
Gleich in den Anfängen des „Central“ bewarb sich eine ambitionierte peruanische Köchin, Pía León, um eine Stelle in der Küche. „Ich wusste schon als Kind, dass ich Köchin werden wollte“, meint sie. „Nach der Schule begann ich sofort mit der Ausbildung.“ Sie bekam die Stelle und wurde schliesslich Chefköchin im „Central“. Auch privat entwickelte sich die Beziehung zwischen Pía und Virgilio rasanter als zunächst erwartet – sie wurden ein Paar und heirateten bald darauf. „Das Vorstellungsgespräch mit ihr war sehr sachlich“, meint er heute lächelnd. „Ich war nervös wegen des Jobwechsels“, wirft Pía ein. „Und ich wegen der Eröffnung des Restaurants“, fügt Virgilio hinzu. „Das stand damals ganz klar im Vordergrund.“
In den fünfzehn Jahren, die seither vergangen sind, haben Virgilio und Pía gemeinsam ein beachtliches gastronomisches Imperium aufgebaut. Das „Central“ ist nach wie vor das Stammhaus, doch gleich nebenan gibt es nun ein weiteres Restaurant: das Kjolle. Dort ist heute Pía die Küchenchefin. Dank ihrer kulinarischen Kreativität wurde sie zur besten Köchin Lateinamerikas gekürt. Auch im Kjolle steht die Vielfalt der heimischen Zutaten im Mittelpunkt, doch die Speisekarte und das Konzept sind zudem von Pías Kindheitserinnerungen inspiriert. „Meine Mutter ist eine wirklich gute Köchin, und ich erinnere mich daran, wie wir bei der Zubereitung des Essens jedes Wochenende Zeit miteinander verbrachten“, erinnert sich Pía. „Das war der Grund, warum ich selbst Köchin werden wollte.“ Mittlerweile hat das Unternehmen auch über die Landesgrenzen hinaus expandiert. Im Jahr 2022 eröffneten Virgilio und Pía ein Restaurant in Tokio. Dem MA Z wurden dieses Jahr – als erstem südamerikanischen Restaurant – zwei Michelin-Sterne verliehen.
Das Herz der Restaurantgruppe ist nach wie vor das „Central“, doch als Seele kann wohl das MIL bezeichnet werden, ein Anwesen 3500 Meter über dem Meeresspiegel im Heiligen Tal von Peru, zwischen der Andenstadt Cusco und Machu Picchu. Hier kommt die Philosophie der Eheleute am deutlichsten zum Ausdruck. Das Restaurant setzt auf die Zusammenarbeit mit zwei indigenen Gemeinschaften in der Umgebung (Kacllaraccay und Mullaka Misminay) und auf die von ihnen angebauten Kulturpflanzen. „Wir sind von ihrer Ernte abhängig“, erklärt Virgilio. „Das heisst, wir müssen ausgesprochen kreativ sein und genau verfolgen, was dort geschieht.“
Beim Besuch des Restaurants tauchen die Gäste in eine andere Welt ein. Der Restaurantbesuch beginnt bereits Stunden vor dem eigentlichen Essen. Die Gäste werden zu den umliegenden Feldern geführt, wo sie im Gespräch mit Erzeugern und Landwirten erfahren, wie das gesamte Ökosystem funktioniert und woher die Lebensmittel stammen. „Uns geht es darum, dass sich unsere Gäste erst aussen umsehen und dann hereinkommen“, meint Pía.
In seinen Anfängen war das MIL indes kein Restaurant, sondern ein Forschungszentrum. „Wir brauchten separate Räumlichkeiten, in denen wir uns mit diesen Ökosystemen in Höhenlagen befassen konnten“, sagt Virgilio, „denn das meiste Gemüse, vor allem das Wurzelgemüse, das wir in unseren Restaurants verarbeiten, stammt aus den Anden.“ Also richtete er mit seiner Schwester Malena, einer Naturwissenschaftlerin, das Forschungslabor Mater ein, das sich als „Ort des Lernens, des Experimentierens und der kulturellen Kommunikation“ versteht. Hier arbeitet ein interdisziplinäres Team aus Anthropologen, Archäologen, Botanikern, Künstlern und Linguisten gemeinsam an der Entwicklung neuer Ansätze für die Bewirtschaftung des Bodens und die Verarbeitung der Produkte unter Beibehaltung der traditionellen Zutaten und kulinarischen Techniken. Zur Finanzierung der Forschungsvorhaben war jedoch klar, dass sie auch dort ein Restaurant eröffnen mussten.
„Die Idee erschien uns verrückt“, erinnert sich Pía. „Als Virgilio erstmals vorschlug, hier ein Restaurant zu eröffnen, waren Malena und ich mehr als skeptisch.“ Die grosse Entfernung zu ihrem Stammhaus an der Küste in Lima war beileibe nicht das einzige Problem. „Am schwierigsten war es, eine Beziehung mit den Menschen aus den Dorfgemeinschaften hier aufzubauen“, fügt sie hinzu. „Wir haben andere Gebräuche, andere Traditionen und Techniken. Alles war neu.“ Anfangs begegneten ihnen die Einheimischen mit einer gewissen Skepsis, doch dank Virgilios und Pías Warmherzigkeit und Bescheidenheit gelang es, diese zu überwinden – wie Virgilio es formuliert: „Wir sind hier, um zu lernen und gute Nachbarn zu werden.“ Heute sind die Erzeuger und Landwirte vor Ort froh über die Nachbarschaft des MIL und des Mater. „Es erfüllt sie mit grossem Stolz“, meint Virgilio, „denn sie verkaufen ihre traditionellen Lebensmittel, sie konnten ihre Erträge steigern, die Restaurants nehmen ihnen alles ab, was sie produzieren. Zudem fördern wir den Absatz der Produkte auch an anderen Orten, in Cusco und Lima.“
Durch diese Arbeit fand Virgilio eine neue Lebensaufgabe. „Als ich jünger war, dachte ich immer: Du eröffnest ein erfolgreiches Restaurant und holst dir drei Michelin-Sterne. Dann kannst du das Restaurant schliessen, von dem Geld leben und die Welt bereisen“, erzählt er. „Das war schon etwas einfältig.“ Heute treibt ihn, seine Frau Pía und seine Schwester Malena (ein echtes Familienprojekt) neben dem „Gefühl der Kreativität und Transzendenz“ bei der Arbeit die Gewissheit an, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Denn sie wirken führend an der Revolutionierung der globalen Gastronomie mit und bringen Freude und Chancen in das Leben so vieler Menschen. „Was ich in den nächsten 20 Jahren tun möchte, liegt auf der Hand“, meint er. „Ich möchte einfach fortsetzen, was ich begonnen habe.”
Für Virgilio und Pía ist es natürlich noch etwas zu früh, um ernsthaft über die Nachfolge nachzudenken. Doch ihr Sohn Cristóbal zeigt schon lange Interesse für das Kochen und das Restaurant. „Ich weiss nicht, ob er einmal Koch wird, aber er hat wirklich Spass am Essen, und er ist fast jeden Tag hier“, so Pía. Für Virgilio macht das die Sache einfacher. „Wir arbeiten viel“, meint er, „und ich bin wirklich froh, dass er gerne im Restaurant ist, denn sonst würden wir ihn nicht so oft zu Gesicht bekommen.“ Weniger begeistert ist er von der Vorstellung, dass Cristóbal beruflich einmal in ihre Fussstapfen treten könnte. „Den Erfolg sehen alle, doch die wenigsten sehen unseren grossen Einsatz und die vielen Stunden in der Küche“, gibt er zu bedenken. Lieber möchte er seinem Sohn etwas eröffnen, das er selbst als Junge nicht hatte: den Horizont, den er sich erst mit seiner Kochausbildung erschliessen konnte. „Ich möchte ihm so gerne die Welt zeigen“, meint er. „Dann sieht er auch, dass es noch andere Möglichkeiten im Leben gibt.“