Alfredo De Massis ― Innovation durch Tradition

Alfredo De Massis ― Innovation durch Tradition

Wie können Familienunternehmen Innovationen anstossen und dabei einen konstruktiven Umgang mit einigen der grössten Risiken und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Eigentümerstruktur finden? Professor Alfredo De Massis im Gespräch.

Ein gängiges Klischee in Unternehmerkreisen besagt, dass Familienunternehmen grundsätzlich risikoscheu und daher weniger innovativ sind als andere Unternehmen, doch für Professor Alfredo De Massis ist das eine übermässige Vereinfachung. „Viele der am längsten bestehenden Unternehmen in aller Welt sind Familienunternehmen“, betont er, „und aus der Forschung wissen wir, dass sich ohne Innovation langfristig kein Wettbewerbsvorteil erzielen lässt.“

De Massis lehrt als Professor für Unternehmertum und Familienunternehmen an der IMD Business School in Lausanne sowie an der Freien Universität Bozen. In seinem Forschungsschwerpunkt, Management und Führung von Familienunternehmen, zeigt er auf, wie Leiter von Familienunternehmen wirtschaftliche und andere Ziele in Einklang bringen und zugleich das empfindliche Gleichgewicht zwischen Tradition und Innovation aufrechterhalten. „Insbesondere befasse ich mich damit, wie sie sich die Geschichte und Tradition des Unternehmens strategisch zunutze machen, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein“, erzählt er in seinem Büro in Lausanne. „In meiner Arbeit geht es vielfach darum, wie ein traditionsreiches Umfeld Innovationen hervorbringen kann.“

Alfredo de Massis

Doch De Massis räumt ein, dass Inhaber von Familienunternehmen anders mit Risiko und Innovation umgehen als CEOs von Nicht-Familienunternehmen. „Bei ihnen ist die Risikobewertung breiter aufgestellt, nicht nur finanzielle Risiken werden berücksichtigt, sondern eben auch die Risiken für das Familiensystem“, erklärt er. Denn für sie steht „mehr auf dem Spiel – schliesslich haben sie, „wenn etwas schiefgeht, nicht nur Geld und Finanzvermögen zu verlieren, sondern auch Einbussen beim sozio-emotionalen Kapital hinzunehmen“.

Natürlich ist es bei mehr Zielvielfalt deutlich einfacher für die neue Person an der Spitze, den Status Quo aufzubrechen und ein neues Gleichgewicht anzustreben.

Das soll keinesfalls die Bedeutung von Governance-Regeln schmälern; im Gegenteil, der Professor ist überzeugt, dass diese gerade in Familienunternehmen eine zentrale Rolle spielen. „Besonders bei der Weiterentwicklung eines Familienunternehmens ist Umsicht beim Management und der Governance gefragt“, meint er. „Denn mit den passenden Kriterien, Massnahmen und Strukturen kann es gelingen, die Vorteile dieser Organisationsform zu nutzen und deren Nachteile zu umgehen.“

Zum Thema Innovation meint De Massis, dass Unternehmen sich entgegen der Intuition oft gerade durch den Blick in die Vergangenheit gut auf die Zukunft vorbereiten können. Am besten gelingt das aus seiner Sicht Familienunternehmen, die „es schaffen, allen Angestellten im Unternehmen – von der höchsten Führungsebene bis zum einfachen Mitarbeiter – die Unternehmensgeschichte nahezubringen“. Auch die Unterschiede zwischen den Generationen und deren zeitlicher Orientierung lassen sich damit am besten ausgleichen. So entsteht ein Prozess der Rekombination; das ist laut De Massis „die Fähigkeit, Elemente aus der Vergangenheit mit neuem Wissen zu kombinieren, die Vergangenheit zu rekontextualisieren und zu etwas Neuem zu gelangen“ – genau das, was er als „Innovation durch Tradition“ bezeichnet.

Der Begriff „sozio-emotionales Kapital“ bezieht sich auf eine nicht finanzielle Form des Vermögens, konkret etwa immaterielle Werte wie Familienidentität und emotionale Bindung an das Unternehmen. De Massis verweist darauf, dass Leiter von Familienunternehmen oft auch „ auf die Familie ausgerichtete nichtökonomische Ziele verfolgen, etwa Arbeitsplätze für die nächste Generation zu schaffen, die Kontrolle über das Unternehmen in der Familie zu halten oder das Ansehen der Familie vor Ort zu stärken“.

Bei ihrem Umgang mit Risiko und Innovation haben die Inhaber von Familienunternehmen diese nichtökonomischen Ziele ebenso im Hinterkopf wie das sozio-emotionale Kapital, das investiert wurde. „Wer Innovationen vorantreiben möchte, muss in der Regel auf etwas Riskantes und Ungewisses setzen“, meint De Massis. „Inhaber von Familienunternehmen treffen solche Entscheidungen nicht, wenn sie damit ihr sozio-emotionales Kapital gefährden.“ Diese Zurückhaltung mag auch ihre Bereitschaft einschränken, sich mit Risikokapitalgebern, Banken oder Business Angels zusammenzutun, die anderen Arten von Unternehmen den Weg zu Innovation ebnen können. Hinzu kommt oft die mangelnde Bereitschaft, grosszügig Geld auszugeben – De Massis zufolge geht es bei den Entscheidungen von Familienunternehmern „um das Vermögen der Familie, sie sind also ausgesprochen sparsam bei Investitionen in Innovation und F&E“.

Wenn sich Familienunternehmen bei der Zusammenarbeit mit bestimmten Anlegern und bei den Ausgaben in Zurückhaltung üben, was kennzeichnet dann ihre Innovationstätigkeit? Der entscheidende Faktor ist hier der oft weitaus längere Zeithorizont. Familienunternehmen denken in der Regel längerfristig, wie De Massis sich selbst überzeugen konnte. In einem Gespräch mit dem Inhaber eines Familienunternehmens, der zugleich Grossvater war, sagte dieser: „Wenn ich heute eine Entscheidung treffe, weiss ich, dass nicht einmal meine Enkelkinder davon profitieren werden, sondern deren Kinder.“ In anderen Firmen liegt das Augenmerk eher darauf, wie sich Innovationen über einen Zeitraum von fünf oder vielleicht zehn Jahren auswirken könnten, doch Familienunternehmen denken generationenübergreifend.

Zudem wird der Wandel in Familienunternehmen durch die Übergabe an die nächste Generation automatisch vorangetrieben. Zugegeben, dazu kommt es in der Regel nur einmal pro Generation (wenn alles gut läuft); so ist davon also kaum ein regelmässiger Impuls für Innovationen zu erwarten. Dennoch ist diese Übergabe eine wichtige Gelegenheit, bei der Familienunternehmen ihre Prioritäten durch den Führungswechsel neu setzen können. „Das ist ein Katalysator für Innovationen“, meint De Massis. Seinen Forschungsergebnissen zufolge erhöht sich im Zuge der Unternehmensübergabe die „Zielvielfalt“, da von den Familienmitgliedern und Beschäftigten eine breitere Palette von Zielen für das Unternehmen formuliert wird. „Natürlich ist es bei mehr Zielvielfalt deutlich einfacher für die neue Person an der Spitze, den Status Quo aufzubrechen und ein neues Gleichgewicht anzustreben“, erklärt De Massis. Daher sei von Beratern oft zu hören, dass die Nachfolge als „Chance für Innovation“ genutzt werden müsse, fügt er hinzu.

Allerdings kann es in dieser Phase auch zu Unstimmigkeiten und Konflikten kommen. „Bei der Übergabe von Familienunternehmen gibt es oft Streitigkeiten zwischen den Generationen über den Umgang mit Innovation“, meint De Massis. Tendenziell steht dabei die jüngere Generation der weit gereisten, polyglotten Digital Natives einer älteren Generation gegenüber, die das oft mühevoll Erreichte schützen möchte. Der Professor führt das u. a. auf die „unterschiedliche zeitliche Orientierung“ der Beteiligten zurück, „die Jungen orientieren sich eher an der Zukunft, die Älteren eher an der Vergangenheit“. Insofern kann die Phase der Unternehmensübergabe zwar tatsächlich eine Zeit der Innovation sein, doch es kann auch zu Spannungen kommen – wie jedes traditionsreiche Familienunternehmen weiss.

Verschärft werden diese Spannungen potenziell durch mehrere demografische Trends. Die höhere Lebenserwartung ist natürlich auf globaler Ebene eine enorme Errungenschaft, doch sie hat auch Auswirkungen auf Familienunternehmen. „In Familienunternehmen leben sehr alte Menschen mit sehr jungen zusammen, das erhöht das Konfliktpotenzial“, gibt De Massis zu bedenken. Zugleich könnte der weltweite Geburtenrückgang bedeuten, dass die Zahl möglicher Nachfolger in einigen Familienunternehmen sinkt. Und dann gibt es noch Trends wie die exponentiell steigende Scheidungsrate und die wachsende Zahl multikultureller Familien. Das muss natürlich kein Nachteil sein, macht die Sache aber dennoch komplexer. „Unser Wissen darüber, wie man eine Nachfolge plant, wie man Governance-Regeln für das Familienunternehmen erstellt und das Unternehmen professionalisiert, bezieht sich zum Grossteil auf die traditionelle Kernfamilie“, so De Massis. Ihm zufolge ist in diesem Bereich ein „grundlegendes Umdenken“ angezeigt.

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