Gebäude werden Teil der Kreislaufwirtschaft

Gebäude werden Teil der Kreislaufwirtschaft

Als Thomas Rau Anfang der 1990er Jahre in Amsterdam sein Architekturbüro gründete, war er ein Vorreiter für nachhaltige, CO₂-neutrale Gebäude. Jahrzehnte später entwickelte er hieraus das Konzept der „Kreislaufarchitektur“ – Bauwerke auf Zeit, deren Material sich zerlegen und wiederverwenden lässt. Damit ist ein Gebäude kreislauffähig. Ob es wirklich in den Stoffkreislauf zurückkehrt, entscheidet sich am Ende des Lebenszyklus.

Thomas Raus Lebensphilosophie geht auf ein Ereignis zurück, das er im Alter von zehn Jahren hatte. Er war mit Freunden auf einer Grillparty, als es zu regnen begann. Beim Versuch, den Grill schneller heiss zu bekommen, schüttete er einen Kanister Benzin in die Flammen. Der Kanister explodierte in seinen Händen, und Rau erlitt schwere Verbrennungen am ganzen Körper. Er brauchte ein Jahr, um wieder gesund zu werden, und einen grossen Teil dieser Zeit verbrachte er allein in einem dunklen Raum. „Ich hatte das Gefühl, vielleicht zu sterben“, sagt er. „Aber mir wurde auch klar, dass alles nur auf Zeit ist und dass es ein Geschenk ist, am Leben zu sein.“

Diese Erkenntnis, dass nichts für die Ewigkeit ist, hat Raus Karriere als Architekt und Vordenker geprägt. Sein 1992 gegründetes Architekturbüro RAU in Amsterdam ist seit Langem ein Vorreiter für nachhaltige, CO₂-neutrale Gebäude. Hier entstanden die Pläne für eines der ersten Gebäude, bei denen das Dach zur Energiegewinnung vermietet wird, und später für eines, bei dem die Lüftungsanlage anhand des CO₂-Gehalts in der Raumluft geregelt wird. Anfangs, sagt er, „war es hart“. In den 1990er Jahren war Nachhaltigkeit am Markt eher ein Nischenthema. „Ich glaube, manche haben einfach darüber gelacht und gesagt: ,Das ist der Mann für Nachhaltigkeit, aber echte Architektur machen wir‘“, so Rau.

Thomas Rau, Founder, RAU Architects. Image courtesy and copyright Daniel Koebe

Viele Jahre lang, erinnert er sich, war es schwierig, Kunden von seiner kompromisslosen Sicht zu überzeugen, doch gerade als Nachhaltigkeit Mainstream wurde, wuchs bei Rau selbst die Frustration. „Ich war sicher, dass Nachhaltigkeit das Mittel ist, um alles zu verändern“, sagt er. „Aber mir war zunehmend unwohl dabei. Wir haben nun all diese Gebäude gebaut, aber verändert hat sich nichts. Wie kann das sein?“

Ein Treffen mit Ellen MacArthur in Davos brachte Rau dazu, die Kreislaufwirtschaft in den Mittelpunkt seines Denkens zu stellen. Er übertrug diese Ideen auf die gebaute Umwelt und entwickelte so das Konzept einer „kreislauffähigen Architektur“. Aus dieser Sicht ist die Welt ein geschlossenes System mit einer endlichen Menge an Materie, und Gebäude werdenals zeitlich begrenzte Ansammlung von Baustoffen verstanden, die bei Bedarf nahtlos wieder in die Lieferkette zurückgeführt und wiederverwendet werden können. Perfekt verkörpert wird dieses Konzept durch den Hauptsitz der Triodos Bank in den Niederlanden, den RAU 2019 fertiggestellt hat: ein grosses Bürogebäude aus Holz, das von 165 312 Schrauben zusammengehalten wird und sich komplett zerlegen und wieder aufbauen lässt. Eine weitere Weltneuheit. 

Wenn Nachhaltigkeit nur ein „Trick“ ist, wie Rau es ausdrückt, dann steht Kreislaufarchitektur für einen totalen Gesinnungswandel der Menschheit – die Erkenntnis, dass wir „auf Erden Gast sind und nicht Gastgeber“. Zusammen mit seiner Frau Sabine Oberhuber, ebenfalls Expertin für Kreislaufwirtschaft, gründete Rau die Beratungsfirma Turntoo, die Unternehmen bei der Entwicklung eines Geschäftsmodells unterstützt, das diesen Werten entspricht. Zudem war er 2017 Mitbegründer der Madaster Foundation, die zur Förderung der Kreislaufarchitektur beiträgt, indem sie Tools bereitstellt, mit denen sich bei Bauvorhaben Teile und Komponenten dokumentieren, bewerten und registrieren lassen. So wie Rau beim Thema Nachhaltigkeit dem Trend trotzte, so setzen sich nun seine Ideen zur Kreislaufarchitektur immer mehr durch. Heute umfasst das Verzeichnis von Madaster fast 3000 Gebäude von 1750 Nutzern in sieben europäischen Ländern und Japan.

Der Hauptsitz der Triodos Bank in den Niederlanden wurde von RAU im Jahr 2019 fertiggestellt und ist das weltweit erste grosse Bürogebäude aus Holz, das sich vollständig ab- und wieder aufbauen lässt. Bild: Copyright mit freundlicher Genehmigung von Ossip van Duivenbode.

RAU hat etwa 15 bis 20 Mitarbeitende, und bei Turntoo sind es zwischen fünf und sieben. Dem Gründer kommt es bei seinen Mitarbeitenden nicht so sehr auf Erfahrung an, sondern auf die richtige Denkweise. So hatte Rau bei einem Projekt den Auftrag für den Bau eines 6500 Quadratmeter grossen Stahldachs zu vergeben. Naheliegend wäre eine Fachfirma für Stahldächer gewesen, doch deren Geschäftsmodell, so erklärt er, besteht darin, möglichst viel Stahl zu verkaufen und nicht möglichst wenig. Stattdessen beauftragte er eine Firma, die Achterbahnen baut. Eine Achterbahn muss regelmässig zerlegt, transportiert und neu aufgebaut werden. „Ich habe gesagt: ,Stellt euch vor, ihr baut eine horizontale Achterbahn, und wir nennen sie dann einfach Dach‘“, sagt Rau. „So haben wir 34,7 Prozent weniger Stahl gebraucht.“

Kreislaufarchitektur kann viel vom Produktdesign und von Fertigungsstrassen lernen. Raus Team besteht aus vielen Industriedesignern – Menschen, die sich an der Skalierbarkeit von Produkten orientieren. Ausserdem hat er als Berater für einen grossen Automobilhersteller gearbeitet. Bei der Konstruktion eines Autos werden zahllose individuelle Gestaltungsmöglichkeiten eingeplant, und durch die unterschiedliche Kombination der immer gleichen Teile wirkt das Ergebnis wie ein Unikat. Diese Modularität sollte es auch beim Bauen geben, findet Rau. Wenn die Einzelteile möglichst simpel sind und sichergestellt wird, dass jedes Element in grossen Mengen vorhanden ist, wird die Bestellung billiger, und die Teile können leichter weiterverkauft und wiederverwendet werden, sobald das Gebäude das Ende seiner Lebensdauer erreicht.

Eines der grössten Hindernisse für eine breitere Akzeptanz der Kreislaufarchitektur und der Kreislaufwirtschaft im Allgemeinen ist das Mindset. Wie lässt sich beurteilen, ob ein Bauvorhaben günstig oder teuer ist? Viele Bauherren orientieren sich hierbei noch immer an den Baukosten. Rau würde das hinterfragen: „Was heisst überhaupt günstig? Geht es um niedrige Investitionen oder niedrige Unterhaltskosten? Oder soll das Gebäude am Ende möglichst viel wert sein?“ Ein Kreislaufgebäude hat auch am Ende seines Lebenszyklus noch einen Wert.

Zwei Möglichkeiten, die Kreislaufwirtschaft zu fördern, sind finanzielle Anreize, wie beim Elektroauto, und eine höhere CO₂-Steuer. „Bei einem Kreislaufgebäude ist der CO₂-Ausstoss ja viel geringer“, sagt Rau. „All die Baustoffe lassen sich immer und immer wieder verwenden.“ Doch die
dritte Möglichkeit ist für ihn Aufklärung – damit mehr Menschen ihre Denkweise so verändern wie er. „Für echten Wandel ist Nachhaltigkeit das falsche Mittel“, sagt er. „Bei Nachhaltigkeit geht es um Optimierung im bestehenden System. Doch wenn wir die Architektur des Systems nicht ändern, wird sich gar nichts grundlegend ändern. Und ich denke, es muss sich alles grundlegend ändern.“

Thomas Rau

Gründer von RAU Architects
1983

Antritt einer einjährigen Stelle als
Assistenzdesigner im Architekturbüro für Humanökologie.

1989

Abschluss des Architekturstudiums an der RWTH Aachen.

1992

Gründung des Architekturbüros RAU in Amsterdam, das mit nachhaltigen, CO₂-neutralen Gebäuden Pionierarbeit leistet.

2010

Gründung der Beratungsfirma Turntoo zusammen mit seiner Frau, Sabine Oberhuber.

2016

Veröffentlichung der ersten Auflage von Material Matters von Thomas Rau und Sabine Oberhuber auf Niederländisch; die lang erwartete englische Ausgabe erscheint sechs Jahre später.

2017

Mitgründung der Madaster Foundation zur Förderung der Kreislaufarchitektur

2019

Fertigstellung des von RAU entworfenen weltweit ersten Bürogebäudes aus Holz, das komplett zerlegt und wieder aufgebaut werden kann.

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